20210313

Der Kodex von Inogili, Teil 1: Der Aufbruch

 

Photo by Dennis Klicker on Unsplash

"Noch fünf Sekunden", sagte Lieutenant Solies.

"Verstanden", gab der Erste Offizier zurück. "Vorbereiten zum Lösen der Halteklammern! Manöverdüsen hochfahren."

"Manöverdüsen sind oben", war die Antwort.

"Zwei, eins, null - Startsequenz läuft!", meldete Gorrrth. "Lieutenant Solies, manövrieren Sie das Schiff aus dem Hangar."

"Aye, Sir!"

Die Brückencrew der EUROPE war angespannt. Eigentlich war also alles wie immer bei so einer Mission. Angespannt sein gehört zum Job, hatte jemand mal gesagt. Hey, immerhin fliegen wir durch den Weltraum, ist ja nicht so wie über Rübenfeldern. Und doch war an dieser Mission etwas besonderes. Die Blockade des Sonnensystems bestand nämlich noch immer.

Die Blockade war etwas, mit dem der verräterische ehemalige Prätor von Lokubami Scurra sich für den Umstand rächte, dass er nun ein ehemaliger Prätor war. Er war in einer den Gesetzen von Lokubami folgenden Abstimmung abgesetzt worden. Das hieß nicht viel, denn die Wahlgesetze von Lokubami waren von den Gründern der Nation, bei denen es sich um engstirnige, verbohrte Kolonialisten handelte, im Alkoholrausch geschrieben worden. Sie waren - zumindest für ein modernes Zeitalter - unnötig kompliziert und verfolgten nur einen Zweck: Den so genannten Balcerpinus, der politischen Strömung, der Scurra angehörte, die Macht zu erhalten. Das alles hatte aber nun nichts genutzt, also Befahl Scurra etwas, das er schon seit langem geplant hatte. Nicht einmal sein unmittelbarer Stellvertreter Denarios hatte etwas davon geahnt. Scurra hatte der Aktion verschiedene Codenamen gegeben, je nach Lust und Laune. "Operation Asche", "Operation Verbrannte Erde" oder auch "Die andere Operation". Worin sie bestand, das musste das Sonnensystem auf furchtbare Weise erfahren, aber Lokubami hätte fast noch einen höheren Preis bezahlen müssen. Scurra hatte nämlich mit den Mächten der so genannten "Hohen Hand" paktiert. Eine Armada der "Hohen Hand" hatte daraufhin das Sonnensystem vom Rest der Galaxis abgeriegelt. Eine zweite Welle startete einen Angriff auf Lokubami, der aber gerade noch abgewehrt werden konnte. 

Damit war es extrem schwierig geworden, das Sonnensystem zu verlassen. Es gab wenige Raumschiffe, die Möglichkeiten gefunden hatten. Die bekannten Hyperraumtunnel, die in andere Sonnensysteme führten, waren überwacht und die Streitkräfte der "Hohen Hand" taten ihr möglichstes, Raumschiffe aufzuhalten.

"Captain", meldete Lieutanten Solies, "die BOURGOGNE liegt direkt vor uns."

"Verstanden", antwortete Captain K'Mon. Die Dessari zeigte keine Regung. "Geben Sie der BOURGOGNE Bescheid, dass wir soweit wären."

"Aye!"

Die BOURGOGNE war ein Schlachtkreuzer, der sich in letzter Zeit einen Namen gemacht hatte. Sie hatte ausgeholfen bei der großen Krise von ASTROCOHORS, bei der Schlacht von Lokubami und die BOURGOGNE war das erste Schiff, das die Blockade der "Hohen Hand" durchbrochen hatte. Jetzt sollte sie der EUROPE helfen, das gleiche zu tun. Deswegen war die EUROPE in der Station VERIS BASTION gewesen, von der aus sie nun startete. Sie war hergerichtet und die Besatzung ergänzt worden. Das Schiff flog aus dem Haupthangar von VERIS BASTION heraus und nahm an Fahrt auf.

"Die BOURGOGNE meldet, wir sollen unmittelbar hinter ihr fliegen und zum Raumtunnel folgen", berichtete Solies.

"Dann tun wir das."

Die EUROPE schloss zur BOURGOGNE auf. Beide Raumschiffe setzten sich in Bewegung, während die BOURGOGNE Navigationsdaten übertrug. Für diese Mission der EUROPE war ein bisschen Trickserei nötig, da das Schiff der AMBASSADOR-Klasse allein wahrscheinlich nicht durch den Belagerungsgürtel gekommen wäre. Aber sie musste es tun, ihr Ziel war der Planet Inogili im Einflussbereich der Usovai'i. Es war eine diplomatische Mission, also konnte man dort nicht ein Kampfschiff wie die BOURGOGNE hinschicken. Die Mission bestand darin, mit den Inogili zu verhandeln, um ein dringend benötigtes Vakzin zu bekommen. Als hätten das Sonnensystem und die Galaxis nicht schon genug Probleme.

Auch bei den Usovai'i war es vor kurzem zu einem Regierungswechsel gekommen. Dieser Regierungswechsel erlaubt es überhaupt, dass so ein Handel wie der mit Inogili zustande kam. Noch vor einem halben Jahr wäre dergleichen undenkbar gewesen.

Die beiden Raumschiffe beschleunigten und steuerten auf einen Bereich des Asteroidengürtel, der ein Stück von VERIS BASTION entfernt lag. In dieser Region befand sich der Eingang zu einem Raumtunnel. Und irgendwo mussten die Raumschiffe der "Hohen Hand" auf der Lauer liegen. 

"Radar zeigt vier Echos, die sich auf uns zubewegen", sagte Gorrrth plötzlich. "Identifizierung... ja, es handelt sich um kleine Kampfraumer der 'Hohen Hand'."

"Alarmstufe Rot", sagte K'Mon. "Schilde hoch, Waffen fertigmachen. Aber gefeuert wird wenn überhaupt auf mein Kommando."

"Verstanden!"

Den Plan hatte der Kapitän der BOURGOGNE ausgetüftelt. Es gefiel Captain K'Mon nicht, dass man sich zurückhalten musste, aber die BOURGOGNE war einfach besser ausgerüstet. Tatsächlich hatte man dort auch schon die Ankunft des Gegners bemerkt.

"Die BOURGOGNE fährt die Schilde und Waffensysteme hoch", erkannte Lieutenant Solies.

Auf dem Hauptschirm bot sich daraufhin ein wahres Spektakel. Alle Kanonen, die aus ihren Öffnungen kamen, fingen augenblicklich zu schießen an. Sie erwischten den ersten feindlichen Kampfraumer bereits, als dieser noch nicht einmal in der Nähe war. Die anderen drei umkreisten die beiden Schiffe nervös und waren zu sehr damit beschäftigt, den Schüssen auszuweichen, als dass sie selber schießen konnten. Einige Schüsse gingen knapp an der Hülle der EUROPE vorbei, aber die Besatzung der BOURGOGNE war sehr trainiert.

Als nächstes meldete Gorrrth, dass die BOURGOGNE den Aktivierungsstrahl aussandte. Mit dem Strahl wurde der Raumtunnel geöffnet. Die drei Kampfraumer umkreisten die Schiffe noch nervöser, ungefähr so wie Wespen einen Menschen umkreisten, der sich ihrem Nest näherte. Dann war der Tunnel auf.

"Bereithalten für die Waffen", befahl K'Mon. "Auf meinen Befehl Salvenfeuer in unsere unmittelbare Umgebung, aber aufpassen, dass wir die BOURGOGNE nicht erwischen."

"Aye!"

Die BOURGOGNE schaltete ihre Waffen aus. "Jetzt!", kam die Anweisung der Kapitänin. Darauf begann die EUROPE mit dem Feuerwerk. Es war nicht so imposant wie das der BOURGOGNE, aber es schien die gegnerischen Schiffe zu beeindrucken. Die BOURGOGNE näherte sich nun dem Schlund des Tunnels, sie konnte nicht mehr schießen, da Plasmastrahlen den Tunneleingang zum kollabieren bringen konnten. 

"Die BOURGOGNE tritt in den Tunnel ein", rief Solies.

"Feuer einstellen!", gab K'Mon zurück. "Direkt der BOURGOGNE folgen und für Übergang vorbereiten."

Nun schwiegen die Waffen der EUROPE. Die BOURGOGNE flog in den hellen Schein des Raumtunnels und verschwand für einen Moment, dann folgte ihr die EUROPE. Die Umgebung verschwamm, als die Farben des Spektrums sich verschoben, die Sterne zu Strichen wurden und sich in einem Farbenwirbel auflösten.

"Instrumente zeigen", sagte Gorrrth, "dass sich der Raumtunnel hinter uns geschlossen hat. Feinde scheinen keine mit reingekommen zu sein."

"Alarmstufe Rot beenden, wir gehen zurück auf Gelb", meinte K'Mon. "Wir bleiben auf Kurs und wechseln in den Tunnel zum Sektor von Xesta. Für den Flug gilt zwar erhöhte Wachsamkeit, die Besatzung, die nicht im Dienst ist, soll sich aber ausruhen. Bevor wir Inogili erreichen, gibt es eine Besprechung unserer Mission."

"Wenn alles nach Plan verläuft, werden wir in ungefähr 22 Stunden dort eintreffen", meldete Solies.

"Sehr gut. Dann erwarte ich alle Abteilungsleiter und sonstigen Offiziere zwei Stunden davor im Besprechungsraum."

"Ich werde den betreffenden Personen Bescheid geben."

20190511

Willkommen zu Hause!

Photo by Federico Rizzarelli on Unsplash

Die Schiffswerft war immer noch ein faszinierender Anblick, wie sie im Orbit von Thlybigna schwebte. Groß und majestätisch. Lance McCrae hielt einen Moment inne. Er sah die Werft und die Welt, die sie umkreiste. Von hier aus war die EUROPE zu ihren Reisen aufgebrochen - vor ziemlich genau 27 Jahren. Er blickte auf das Chronometer, das in der Wand eingelassen war.

Tag 9871, Bordzeit: 19.00 Uhr

stand da. Unermüdlich hatte die Uhr gezählt, seit der ersten Stunde. 9871 Tage. Wieviele davon war er wohl nun schon auf der EUROPE?

Er schüttelte den Gedanken ab. Wenn er sowas ausrechnete, fühlte er sich nur alt. Es war schon einige Zeit her, dass er auf der HOOD gearbeitet hatte. Die Kollegen von damals hatte er seither nicht mehr gesehen. Seit jenen Ereignissen, als...

Auch diesen Gedanken schüttelte er ab. Das war Vergangenheit, beschloss er. Die Reflektion in dem Außenfenster des wissenschaftlichen Labors erinnerte ihn schmerzlich daran. Er war älter geworden.

Lance ging von dem Fenster weg herüber zu einem Tisch, an den mehrere Geräte eingebaut waren, die der Forschung dienten. Nicht unüblich für die wissenschaftliche Abteilung. Unüblich jedoch war, dass die Geräte allesamt heruntergefahren waren. Das wissenschaftliche Labor wurde langsam in den Ruhemodus versetzt.

"Achtung, Besatzung, hier spricht Captain Kl'AmbH!", war über die Lautsprecher zu hören. "Wir haben in Kürze die endgültige Position in der Raumwerft von Thylbigna erreicht. Die Führungsoffiziere finden sich an Schleuse 17 ein, es gibt einen offiziellen Empfang. Für alle anderen Besatzungsmitglieder beginnt der Landurlaub. Wenn die Arbeiten an der EUROPE beendet sind, erhalten Sie eine Nachricht."

Kaum war die Durchsage beendet, als Lances Kommunikator piepte.
"McCrae hier", meldete sich der Wissenschaftler.
"Hey Lance, hier ist Fevari", klang eine weibliche Stimme aus dem Lautsprecher. "Du hast die Durchsage wahrscheinlich gehört. Gehst Du gleich los in Richtung Schleuse?"
McCrae sah sich um. Er war allein, die Mannschaft des wissenschaftlichen Labors war schon vor einer halben Stunde in die Quartiere gegangen, um ihre Sachen zu richten, die sie für den Landurlaub brauchen würden. Die Geräte waren alle deaktiviert.
"Ja, ich denke, ich mach mich gleich auf den Weg. Warum fragst Du?", antwortete er.
"Vielleicht können wir zusammen gehen", meinte sie. "Captain Kl'AmbH hat gesagt, dass der Gouverneur von Thlybigna uns in Empfang nehmen wird, da möchte ich nicht allein aufkreuzen."
"Der Gouverneur? Beim Zeus, da tun wir tatsächlich besser daran, nicht allein dazu zu kommen." Er sah nochmal aus dem Fenster. Aus der Perspektive des Labors konnte man jetzt sehen, wie riesige Greifarme an die Seite des Schiffes gefahren wurden, die es in seiner endgültigen Parkposition verankern sollten. "Okay, ich komme rüber."

Auf dem Weg durch die Gänge der EUROPE kreisten Lances Gedanken um den Empfang. Der Gouverneur. Auch das noch. McCrae hatte die Politik der Gunafírischen Kolonialföderation nie verstanden. Irgendwie bestand die politische Landschaft zum Teil aus Adelsfamilien und zum Teil aus Parteien, die gewählt werden konnten. Thlybignas Gouverneur entstammte einer der Adelsfamilien, was an sich - so empfand es zumindest Lance - keine gute Ausgangsposition war. Der Gouverneuer von Thylbigna gehörte dem Haus der Vertner an, dem eigentlich ganz vernünftige Leute entstammten. Aber offenbar musste jede Familie einen merkwürdigen Onkel haben, der auf Familienfeiern im Eck sitzt, über die Ungerechtigkeit des Universums schwadroniert, behauptet, früher sei alles besser gewesen und sich auch ansonsten so zum Fremdschämen peinlich verhielt, dass sich die anderen Familienmitglieder fragten, warum dieser Onkel auch immer zu Familienfeiern eingeladen wurde.

Gouverneur Phalbor Rimes vra Vertner - das "vra" bedeutete so viel wie "von", und darauf bestand er! - war dieser merkwürdige Onkel. Obwohl er Gouverneur nur eines Systems in einem Systemgebiet war, das wiederum der Kolonialföderation untergeordnet war, also bestenfalls ein Lokalfürst, machte er vieles, um nach Aufmerksam zu heischen. Dann sagte er Sachen. Dumme Sachen. Beleidigende Sachen. Wie besagter Onkel beim Familienfest, nachdem er sich etliche Gläser eines alkoholischen Getränks hinter die Binde gegossen hatte. Das Problem war nur, dass Phalbor Rimes vra Vertner immer nüchtern war, wenn er zu seinen Tiraden anhob.

Lance bog um eine Ecke und traf auf Fevari. "Hi", sagte sie, "lass uns lieber schnell gehen."
"Ja, aber nur wegen dem Captain", erwiderte Lance.
"Wie?"
"Lass uns zu dem tollen Empfang gehen, aber nicht wegen dem mit der Muffe gepufften Gouverneur. Lass uns gehen, um Captain Kl'AmbH zu unterstützen."
"Gute Idee."
"Typen wie der sind der Grund, warum wir eine Krise in der Planetenunion haben. Wenn das so weiter geht, werden die Separatisten die Gemeinschaft auseinander reißen."

Die beiden trafen kurz darauf bei Schleuse 17 ein. Der Rest der Führungsoffiziere der EUROPE war schon versammelt.
Captain Kl'AmbH sah sich um. Neben ihr waren da Commander Frank, Sommerron, Gorrrth, Fevari Vivala, McCrae, Etee, Arenath, Brailing, Roivo und Kas'PaH. "Wir sind vollständig", stellte sie fest, "dann wollen wir mal!"

Die Schleuse öffnete sich. Wie befürchtet stand auf der anderen Seite bereits Gouverner Phalbor Rimes vra Vertner mit einem Offizier der Sicherheit und wartete. Kl'AmbH trat nach vorne.
"Die USS EUROPE meldet sich im Dock zurück zu Überholungsarbeiten, Sir!", sagte sie.
"Hm", brummte vra Vertner. Es war absolut nicht zu erkennen, wie das gemeint war. Doch der Blick sprach Bände. Missmutig sah Vertner die Führungsoffizier des Flaggschiffs der AMBASSADOR-Klasse an.
"Dessarut", brummte er, "Terraner, Insektoid und Cordiera..." Demonstrativ drehte er sich zu dem Wachmann um und von den Offizieren der EUROPE weg. "Das sind die Führungsoffiziere der EUROPE?", fragte er, ohne allerdings wirklich eine Antwort zu erwarten. "Nach welchen Kriterien wurden die denn ausgewählt? Die Schiffe der AMBASSADOR-Klasse sollen doch unsere Gemeinschaft repräsentieren. Aber was für eine Gemeinschaft wird hier abgebildet?"

Er murmelte dem Sicherheitsoffizier etwas zu, dann stakste er ohne noch ein Wort zu verlieren davon. McCrae legte Kas'PaH die Hand auf die Schulter. Er hatte gemerkt, dass selbiger den Drang hatte, den Herrn Gouverneur aus einer Luftschleuse zu werfen.
"Mach Dir an dem die Hände nicht schmutzig", meinte Lance, "der Formularkram hinterher ist die Hölle!"
"Wow", sagte Frank mit minderer Begeisterung, "das war... das war... irgendwas!"

Die Offiziere wussten nicht so recht, was sie tun sollten. Vor ihnen stand noch immer der Wachoffizier. Das Bild wirkte ein wenig surreal, der Offizier in seiner dunklen Uniform in dem Gang mit weißen, geschwungenen Wänden und dem blauen Fußboden. Die blauen Leuchten, die in die Decke eingelassen waren, gaben dem ganzen ein beinahe künstlerisches Aussehen.

Der Wachmann zuckte mit den Achseln. Sinnigerweise war er ebenfalls Terraner. "Auf Anweisung von Lokalgouverneur Phalbor Rimes vra Vertner wird ein Empfang im großen Saal ausgerichtet anlässlich ihrer Rückkehr. Ich soll sie dorthin bringen."

Er wandte sich schon um, um voraus zu gehen, doch dann hielt er nochmal inne und sah die Brückencrew der EUROPE direkt an.

Dann sagte er: "Willkommen zu Hause!"